Brückengänger: ŌWADA Noriaki ― Schutzmacht für Deutschland: Diplomatie auf Grundlage des gegenseitigen Vertrauens

Dies ist ein etwas anderer Brückengängerbeitrag als sonst: Dr. SHINYO Takahiro, ehemaliger japanischer Botschafter in Deutschland, hat selbst viel für die deutsch-japanischen Beziehungen geleistet. Er sandte uns einen sehr lesenswerten Artikel, der seine fundierten außenpolitische Kenntnisse belegt.

Einführung

2021 wurde das 160. Jubiläum seit Aufnahme japanisch-deutscher diplomatischer Beziehungen begangen. Diesen langjährigen Austausch verdanken wir dem gegenseitigen Vertrauen zwischen den Regierungen und Bürger*innen beider Länder. Ohne dieses Vertrauensverhältnis hätten sich die Beziehungen nicht dermaßen weit entwickeln können. Dies gilt insbesondere für die 76 Jahre seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Die gemeinsamen Werte „Freiheit, Demokratie, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit“ bilden die Grundlage der japanisch-deutschen Beziehungen.

Heute wird von Japan und Deutschland erwartet, dass sie ihre Zusammenarbeit weiter vertiefen, um der Menschheit und der Erde aus ihren multiplen Krisen zu helfen. Für eine derartige bilaterale Zusammenarbeit ist die Aufrechterhaltung des gegenseitigen Vertrauensverhältnisses unerlässlich. Welche Bedeutung dem gegenseitigen Vertrauen während einer internationalen Krisensituation zukommt, können wir beispielhaft anhand eines Ereignisses sehen, das sich vor etwa 20 Jahren während des Kosovokriegs zugetragen hat. Im fünften Kapitel meines Buches „Kokusai Kiki to Nihon Gaikō“ (Internationale Krise und Japans Diplomatie, Verlag Shinzansha, 2005) habe ich über dieses Ereignis berichtet, das ich hier vorstellen möchte, weil es ein Beweis für das japanisch-deutsche Vertrauensverhältnis bietet.

 

Deutschlands Schutzmacht

Als die NATO im Zuge des Kosovokriegs im März 1999 mit der Bombardierung zahlreicher Ziele in der gesamten Bundesrepublik Jugoslawien begann, wurde Japan zur Schutzmacht der Bundesrepublik Deutschland ernannt. Bis November 2000, also rund ein Jahr und acht Monate lang, hatte Japan Deutschlands Interessen vertreten. Während der Bombardierung Jugoslawiens harrten die japanischen Botschaftsangehörigen unter der Leitung des Botschafters ŌWADA Noriaki (Geburtsjahr unbekannt, verstorben 2016) in Belgrad aus. Trotz minimaler Besetzung hat sich die Botschaft von Japan in Jugoslawien für den Schutz deutscher Interessen und Angehöriger eingesetzt.

Hierfür sprach Außenminister Joschka FISCHER Außenminister KŌNO Yōhei seinen tief empfundenen Dank aus. Botschafter ŌWADA wurde später mit dem Großen Verdienstkreuz der Bundesrepublik ausgezeichnet. An dieser Stelle möchte ich zunächst darstellen, welche Aufgaben eine Schutzmacht während einer internationalen Krise übertragen werden. Dann möchte ich meine Ansichten teilen, erstens über die Gründe, warum Deutschland Japan mit der Schutzmacht betraut hat, und zweitens über die Bedeutung der Erfüllung dieser Aufgabe für Japans Außenpolitik.

Der Begriff „Schutzmacht“ oder auch „Interessenvertretung“ (protection of interests) stammt aus dem Wiener Übereinkommen über diplomatische Beziehungen von 1961. Artikel 45 besagt, dass im Falle eines Abbruchs der diplomatischen Beziehungen zweier Staaten oder der vorübergehenden bzw. endgültigen Abberufung einer Mission, der Entsendestaat (hier: Deutschland) einem dem Empfangsstaat (hier: Jugoslawien) genehmen dritten Staat (hier: Japan) die Obhut der Räumlichkeiten, des Vermögens und der Archive der Mission sowie ihrer Interessen und derjenigen ihrer Angehörigen übertragen kann. Artikel 46 erlaubt dem Drittstaat die Übernahme dieser Aufgaben.

Diese Artikel kamen zum Zuge, als Jugoslawien die diplomatischen Beziehungen zu Deutschland abbrach, weil sich Deutschland an den NATO-Luftangriffen beteiligte. Kurz darauf bat die deutsche Regierung die Regierung Japans, die deutschen Interessen in Jugoslawien zu wahren. Japan und Deutschland tauschten eine Verbalnote aus, in dem Japan die Übernahme der deutschen Interessen zusagte. Nach Zustimmung der jugoslawischen Regierung wurde die Botschaft von Japan offiziell Schutzmacht für Deutschland.

 

Einrichtung der deutschen Schutzmacht

Innerhalb der Botschaft von Japan in Jugoslawien wurde eine Abteilung „Deutsche Schutzmacht in der Botschaft von Japan“ eingerichtet. Alle Dokumente Deutschlands, die von der japanischen Botschaft ausgestellt wurden, trugen hiernach entweder das Amtssiegel der Botschaft von Japan oder das der „Deutschen Schutzmacht in der Botschaft von Japan“.

Alle deutschen Botschaftsangehörigen wurden aus Jugoslawien abgezogen. Die Ortskräfte, die in Belgrad verblieben, wurden der Botschaft von Japan unterstellt und ihre Autokennzeichen wurden durch diplomatische Autokennzeichen der Botschaft von Japan ausgetauscht. Das Schild am Gebäude der Botschaft von Deutschland wurde in „Deutsche Schutzmacht durch die Botschaft von Japan“ geändert. Nach Ende der Bombardierung entsandte Deutschland sieben Diplomaten an die „Deutsche Schutzmacht durch die Botschaft von Japan“, die dort – also im ehemaligen deutschen Botschaftsgebäude – ihre Arbeit verrichteten. Doch deren Tätigkeit beschränkte sich auf konsularische und wirtschaftliche Angelegenheiten. Wenn ein deutscher Diplomat mit Vertretern des jugoslawischen Außenministeriums sprechen wollte, musste ihn stets Botschafter ŌWADA oder ein japanischer Botschaftsangehöriger begleiten.

 

Die Aufgaben einer Schutzmacht: drei Ks

Die wesentlichen Aufgaben einer Schutzmacht bestehen aus den sogenannten drei Ks: Konsularisches, Kommerzielles und Kulturelles – Englisch drei Cs: consular, commercial, cultural. Hinzu kommt die Aufgabe der Verwaltung des Botschaftsgebäudes.

In Belgrad unterhielt Deutschland zwei Bürogebäude und eine Residenz für den Botschafter. Die Botschaftsangehörigen Japans haben diese Gebäude regelmäßig kontrolliert, auch inmitten der Bombardements machten sie ihre Kontrollrunden; über diese verantwortungsvolle Geste war das Auswärtige Amt sehr gerührt.

Im Folgenden möchte ich einige konkrete Beispiele aufführen, die Japan als Schutzmacht für Deutschland geleistet hat.

 

Die Festsetzung des Frachtschiffs Erna

Unmittelbar nach Beginn der NATO-Luftangriffe (24. März 1999) wurden der Kapitän und drei weitere Besatzungsmitglieder des unter bayerischer Flagge auf der Donau fahrenden Frachtschiffs Erna auf dem Weg von Belgrad nach Nürnberg im Hafen von Bezdan (heute: Serbien) festgenommen.

Auf Ersuchen des Auswärtigen Amtes setzte sich die Botschaft von Japan mehrfach mit dem jugoslawischen Außenministerium in Verbindung, so dass der Kapitän, die Besatzung sowie die Erna am 30. März den Hafen verlassen konnten. Darüber wurde in der Süddeutschen Zeitung sowie im deutschen Fernsehen berichtet. Bayerns Ministerpräsident Edmund STOiBER sandte ein Dankesschreiben an Botschafter ŌWADA.

 

Deutscher Korrespondent unter Spionageverdacht

Im April wurde der Sat-1-Korrespondent Pit SCHNITZLER von der jugoslawischen Militärpolizei unter Spionageverdacht festgenommen. Auf Ersuchen der deutschen Regierung bat Botschafter ŌWADA die jugoslawische Seite um ein Treffen mit SCHNITZLER, doch die jugoslawische Seite verfolgte eine Hinhaltetaktik, so dass sich das Treffen verzögerte. Erst zehn Tage nach der Verhaftung, am 24. April, kam das Treffen zwischen SCHNITZLER und Botschafter ŌWADA zustande. Bis zu SCHNITZLERs Freilassung kam ein weiteres Treffen zustande. Botschafter ŌWADA, der früher Generalkonsul in Düsseldorf war, spricht fließend Deutsch, so dass die beiden sich auf Deutsch unterhalten konnten.

Für Schnitzler besorgte Botschafter ŌWADA deutschsprachige Bücher und Medikamente gegen dessen chronische Krankheit. Laut Süddeutsche Zeitung (14. Mai 1999) hat Schnitzler vom Botschafter ŌWADA Michael ENDEs „Die unendliche Geschichte“ erhalten und es während seiner Inhaftierung dreimal gelesen. Als der Student Bodo WEBER ebenfalls von der jugoslawischen Militärpolizei wegen Spionageverdachts festgenommen wurde, besuchte Botschafter ŌWADA ihn in der Untersuchungshaftanstalt des Militärgerichts.

Später wurden beide freigelassen und bis zur Grenze nach Kroatien gebracht, womit die Fälle erfolgreich abgeschlossen wurden. Der Staatsminister im Auswärtigen Amt Günter VERHEUGEN, der die beiden Männer in Kroatien empfing, erklärte in einer Pressemitteilung des Auswärtigen Amtes, dass er der Regierung Japans und der Botschaft von Japan in Belgrad seinen besonderen Dank für ihre Unterstützung in dieser Angelegenheit ausspreche. Neben diesen Angelegenheiten hat die Botschaft von Japan weitere konsularische Schutzaufgaben für deutsche Staatsangehörige übernommen.

 

Bedeutung für Japans Außenpolitik

Nach dem Rücktritt von Präsident Slobodan Milošević im Oktober 2000 und der nachfolgenden Demokratisierung nahm Jugoslawien am 16. November 2000 die diplomatischen Beziehungen zu Deutschland wieder auf. Das war die Grundlage für die Wiederaufnahme der offiziellen Arbeit der Deutschen Botschaft in Jugoslawien. Damit war für Japan die Aufgabe als Schutzmacht für Deutschland beendet. Welche Bedeutung hatte dieser diplomatische Dienst der Schutzmacht, also der Schutz der Interessen eines anderen Landes, gehabt? Welche Lehren können wir hieraus ziehen?

Erstens: Die Bedeutung des Vertrauens in der Diplomatie wurde erneut bestätigt. Warum hat Deutschland Japan mit seiner Interessenvertretung betraut? Der ausschlaggebende Grund scheint darin zu liegen, dass Japan eine eigene Position vertrat, die sich von derjenigen der NATO-Mitgliedsstaaten unterschied. Dass die jugoslawische Regierung Japan gegenüber wohlgesonnen war, mag auch eine Rolle gespielt haben. Daher hielten wohl der deutsche Botschafter in Belgrad als auch die Bundesregierung Japan für den richtigen Partner, den man den Schutz seiner nationalen Interessen und seiner Staatsangehörigen in einer Krisenzeit anvertrauen kann. Der Schutz deutscher Interessen durch Japan hat nicht nur das Vertrauensverhältnis zwischen Japan und Deutschland weiter gestärkt, sondern auch zu einer Aufwertung Japans geführt. Denn unter den schlimmsten Umständen der Bombenangriffe setzten sich Botschafter ŌWADA und seine Mitarbeiter nicht nur für den Schutz der nationalen Interessen Japans, sondern gleichermaßen auch für die Interessen Deutschlands ein.

Jugoslawien, das in der internationalen Gemeinschaft zunehmend isoliert wurde, zeigte sich Japan gegenüber kooperativ, als es seinen Aufgaben als Schutzmacht nachging. Vielleicht war Jugoslawien psychologisch gehemmt, gegen Deutschland etwas zu unternehmen, solange Japan als Deutschlands Schutzmacht auftrat.

Zweitens: Durch die Übernahme der deutschen Schutzmacht konnte die Reichweite der japanischen Außenpolitik vergrößert werden. Denn durch den Schutz der Interessen eines sich in der Krise befindenden befreundeten Landes hat Japan die Chance erhalten, sich zu einem gestandenen und reiferen Staat zu entwickeln. Damals war das Arbeitsumfeld der japanischen Botschaftsangehörigen unsicher und gefährlich, weil die NATO nachts Luftangriffe flog und unter anderem auch das Botschaftsgebäude Chinas bombardiert wurde. Die Besatzung der Botschaft von Japan wurde zeitweise bis auf fünf Personen reduziert, so dass Botschafter ŌWADA und die verbliebenen Botschaftsangehörigen in Rotation alle Aufgaben übernahmen. Zudem erstellten sie einen Evakuierungsplan für den Fall, dass sich die Gefahrenlage durch Luftangriffe verschärfte und sie die Botschaft vorübergehend schließen mussten. Trotz dieser schwierigen Lage ist die Botschaft von Japan ihre Aufgaben der Schutzmacht aufrichtig und verantwortungsbewusst nachgegangen.

Das Auswärtige Amt hat der Botschaft von Japan wiederholt mitgeteilt, dass sie sich nicht übernehmen sollte. Die Haltung der Botschaft von Japan muss Deutschland erneut davon überzeugt haben, wie stark Japans Verantwortungsbewusstsein ist, und dass Japan ein vertrauenswürdiges Land ist.

Drittens: Die Bedeutung des Gebens und Nehmens in einer diplomatischen Beziehung: Erstens sollte man eine Schuld redlich zurückzuzahlen, und zweitens sollte man einem anderen Staat eine Schuld gewähren, weil sie wie eine Versicherung wirkt. Als im März 1997 in Albanien der sogenannte Lotterieaufstand ausbrach, hat die Bundeswehr neben deutschen Staatsangehörigen auch dreizehn japanische Staatsangehörige herausgeflogen. Zwei Jahre später hat Japan durch die Übernahme der deutschen Schutzmacht in Jugoslawien diese Schuld beglichen.

 

Schlussfolgerung

Die internationale Interdependenz nimmt zu. Wir können nicht vorhersagen, wann und wo auf der Welt sich unsere Staatsbürger*innen in die Obhut eines anderen Landes begeben müssen. Bislang war Japan wegen seiner verfassungsmäßigen Einschränkungen meist auf Hilfe westlicher Länder angewiesen. Deshalb ist es für Japan angebracht, beispielsweise durch Übernahme einer Schutzmacht andere Länder zu unterstützen, um der internationalen Gemeinschaft nichts schuldig zu bleiben. Ich bin der Ansicht, dass sich Japan weiterhin aktiv in einer auf Vertrauen basierenden Diplomatie wie die Übernahme einer Schutzmacht einbringen sollte, zumal dies wiederum Japans Prestige und Ansehen erhöht, und gleichzeitig ein Beitrag zur Bewältigung internationaler Krisen sein kann.

 

27. Dezember 2021

Professor Dr. Shinyo Takahiro, Kwansei Gakuin Universität, ehemaliger japanischer Botschafter in Deutschland und ehemaliger Präsident des Japanisch-Deutschen Zentrums Berlin.

 

Shinyo Takahiro

Über den Autoren: Dr. SHINYO Takahiro – ein Brückengänger

Derzeitige Position: Vorstandsmitglied und Professor an der Kwansei Gakuin Universität.

1972: Abschluss an der juristischen Fakultät der Universität Ōsaka, Eintritt in das Außenministerium.

Studium an der Universität Göttingen.

Doktor der Rechtswissenschaften (Universität Ōsaka).

Im Außenministerium bekleidete er mehrere Posten: Referatsleiter Abrüstung in der Abteilung Vereinte Nationen (VN), Referatsleiter VN-Politik, Stellvertretender Abteilungsleiter für europäische Angelegenheiten, Generalkonsul in Düsseldorf, Abteilungsleiter/Botschafter für globale Angelegenheiten, außerordentlicher und bevollmächtigter Botschafter bei der Ständigen Vertretung Japans bei den VN, außerordentlicher und bevollmächtigter Botschafter Japans in Deutschland.

2012: Ausscheiden aus dem Außenministerium, Vizepräsident der Kwansei Gakuin Universität (bis 2018).

2015 - 2018: Präsident des Japanisch-Deutschen Zentrums Berlin.

Präsident der Gesellschaft der VN Studien von Japan, Präsident der NPO Malaria No More Japan.

Neben seinen Veröffentlichungen auf Japanisch ist er Autor des deutschsprachigen Buches „Japans außenpolitische Strategie in einer multipolaren Welt“, IUDICIUM Verlag, 2015.

 

Übersetzung: Japanisch-Deutsches Zentrum Berlin

Titelmotiv: Botschafter ŌWADA Noriaki