Brückengängerin: Sandra HÄFELIN – Eine Essayistin, die aus zwei unterschiedlichen Perspektiven Japan betrachtet

Jeder kennt es: Man kommt in einem fremden Land an und merkt: „Huch, hier funktioniert es nicht so wie daheim.“ Anders bei Sandra HÄFELIN, denn sie kennt Deutschland UND Japan und kann deshalb sachlich die Unterschiede analysieren.

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Während der langen Geschichte freundschaftlicher Beziehungen zwischen Deutschland und Japan haben sich sicherlich viele Menschen als Brückenbauerin oder Brückenbauer zwischen diesen beiden Ländern eingesetzt. Allerdings gibt es nicht viele Menschen, die mit einer deutsch-japanischen Brücke in sich geboren wurden und dies als eine Mission ihrer Tätigkeit sehen. Sandra HÄFELIN (Jahrgang 1975) ist eine dieser geborenen Brückengängerin und heute eine der erfolgreichsten Essayistinnen und Essayisten in Japan.
Sandras Kolumnen zeichnen sich durch ihre zwei Perspektiven aus. Aus deutscher UND aus japanischer Perspektive greift sie Themen auf, die uns Japaner*innen nicht sonderlich auffallen oder für uns selbstverständlich sind, oder die wir irgendwie akzeptieren, obwohl sie uns etwas komisch vorkommen, oder die wir innerhalb der japanischen Gesellschaft nicht zu benennen wagen. Über all diese Themen schreibt Sandra ungezwungen und witzig mit leichter Feder auf fließendem Japanisch. Dabei sind ihre Interessen breit gefächert. Von allen vertrauten Alltagsthemen wie Mode, Essen und Jugendkultur bis hin zu Fragen der japanischen Schulbildung oder auch zur japanischen Kultur, zur kulturellen Tradition und zum Rechtswesen. Über all diese Themen schreibt sie in ihren Kolumnen, die online oder in Büchern veröffentlicht werden.

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Buchcover

Manchmal stellen ihre Artikel regelrecht eine Provokation für Japaner*innen dar, die entweder eine Sehnsucht nach Deutschland oder japanisch-nationalistische Ansichten haben. Eine ihrer letzten Kolumnen zur Ausbildung von Bäcker*innen in Deutschland z. B. wurde von vielen Japaner*innen kritisiert. In Japan, wo die Menschen Reis als Grundnahrungsmittel essen, haben Bäckereien oder Neudeutsch „Back Shops“ ein westlich-stylisches Image. Viele Menschen lieben deutsches Brot und nicht wenige erwägen ernsthaft eine Bäckerlehre in Deutschland zu beginnen. Es gibt sogar Menschen, die nach ihrem Studium und anschießender Berufserfahrung in der Privatwirtschaft oder im Schulbetrieb alles hinschmeißen und nach Deutschland ziehen, um eine Bäckerlehre zu beginnen. In ihrem Artikel erläutert Sandra, dass in Deutschland der Bäckerberuf zu den Ausbildungsberufen gehört, der deshalb einen handwerklichen Touch hat, und die Ausbildungsvergütung sehr niedrig ist. Zudem muss eine Bäckerin oder ein Bäcker frühmorgens um 2 Uhr mit der Arbeit beginnen. Deshalb könnte man diesen Beruf vielleicht mit dem Beruf eines kleinen, lokalen Tōfuhersteller und -verkäufer in Japan vergleichen. Als Sandra in ihrer Kolumne auf diese Tatsache hinwies, erhielt sie viele erboste Kommentare, weil sie die Träume der Leser*innen zerstört hätte. Aber sollten wir uns nicht besser die Angelegenheit aus einer anderen Perspektive betrachten und uns etwas besinnen? Das bisherige Leben hinschmeißen, eine Bäckerlehre in Deutschland beginnen und dann mit der Realität konfrontiert werden und erst dann den Schritt zu bereuen – wäre es nicht besser, vorab die tatsächliche Situation zu kennen und dann erst nach Deutschland aufzubrechen? Wenn jemand trotz der Kenntnis der Tatsachen nach Deutschland aufbricht, um eine Bäckerlehre anzutreten, würde Sandra sicherlich die letzte sein, die ihn oder sie davon abzuhalten suchte.
Ein weiterer Artikel, der auf Yahoo! einen Shitstorm ausgelöst hat, war ihr Beitrag über das gedankenlose Gebaren mancher Japaner*innen in Bezug auf den Nationalsozialismus, beispielsweise den Hitlergruß, den manche, ohne nachzudenken, vollführen. Sandra hat einen Artikel geschrieben, in dem sie ausführlich erklärt, wie der Nationalsozialismus in Deutschland aufgearbeitet wurde. Doch auch dieser Artikel hat viel Kritik hervorgerufen. Aber sie sagt, dass der Shitstorm auch eine Form des kulturellen Brückenschlags sei. Dass Japaner*innen, die im Schulunterricht kaum etwas über den Nationalsozialismus gelernt hatten und erst durch Sandras Kolumne unerwartet mit den harten Fakten über den Nationalsozialismus konfrontiert wurden, bestürzt waren, mag eine natürliche Reaktion sein. Auch wenn sie ihr Unwissen nicht als solches anerkennen wollen oder können, haben sie dadurch, dass sie eine Kritik an Sandras Artikel geschrieben haben, wenigstens einen Anlass zum Nachdenken gehabt.

Auch in Bildungsfragen ist Sandra sehr scharfsinnig. Mit der ihr eigenen Leichtigkeit schreibt sie über einige der bedrückenden Themen, die typisch für das japanische Bildungswesen sind. Beispielsweise über die viel diskutierte, aber nie gelöste Frage der Schulordnung. (Anmerkung der Redaktion: Anders als in Deutschland wird die „Schulordnung“ nicht von der Landesregierung erlassen. Die jeweiligen Schulen erstellen für sich Regeln für den Stundenplan oder Schülervertretung und erlassen Vorschriften für Kleidung, Frisur und das Verhalten innerhalb UND außerhalb der Schule.) Das Bildungssystem Japan ist so sehr davon überzeugt, dass Japaner*innen glattes, schwarzes Haar haben müssen. Die Schulen zwingen die Schüler*innen oft, ihr von Natur aus krauses Haar zu glätten oder ihr bräunliches Haar zu färben. Sandra analysiert in aller Nüchternheit diese seltsame Schulkultur und stellt die Situation in deutschen Schulen gegenüber, wo Schüler*innen unterschiedlicher Haartypen und -farben gemeinsam lernen. Menschen, die nur in Japan leben und bislang dem schulischen Glauben an glattes schwarzes Haar keine besondere Aufmerksamkeit geschenkt haben, werden durch Sandras Kolumne erstmals auf diese Uniformitätsgedanken gestoßen.
Hinter Sandras Arbeit steht ihre Denkweise, die auf ihre beiden Muttersprachen Deutsch und Japanisch basiert. Sandra wurde als Tochter eines deutschen Vaters und einer japanischen Mutter geboren. In der Familie herrschte die Regel, dass sie mit ihrem Vater Deutsch und mit ihrer Mutter Japanisch zu sprechen hat. Weil ihre Mutter eine Vollzeithausfrau war, hatte Sandra als Kleinkind mehr Zeit mit ihrer Mutter als mit ihrem Vater verbracht, so dass sie besser Japanisch als Deutsch sprach. Dann wurde sie in Deutschland eingeschult. Bis Ende der 9. Klasse besuchte sie parallel dazu eine Japanische Ergänzungsschule an den Wochenenden. Das führte dazu, dass sie im Deutschen in „low-context cultures“ (kontextarme Kulturen, in denen nur das, was in Worten ausgedrückt wird, von informativem Wert ist) und im Japanischen in „high-context cultures“ (kontextstarke Kulturen, in denen weitaus mehr vermittelt wird als das, was tatsächlich in Worten ausgedrückt wurde) denkt und sich ausdrückt. Je nach Situation und Gesprächspartner kann sie nach Belieben die beiden Sprachen verwenden. Sie selbst kann nicht Deutsch oder Japanisch in irgendeiner Weise gewichten. Wenn Sprache die Identität eines Menschen ausmacht, dann definiert sie Sandra eindeutig über Deutsch UND Japanisch.

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Sandra Häflein auf dem Podium

Dies wird auch dadurch unterlegt, dass niemand aus ihren japanischen Artikeln oder YouTube-Videobeiträge vermuten kann, dass der oder die Autor*in eine bilinguale Person ist, es sei denn, ihr Name oder ihr Bild erscheint in den Beiträgen. Denn ihr Japanisch ist eindeutig auf Muttersprachenniveau. Es ist sogar besser als das Japanisch derjenigen, die in Japan zur Schule gegangen sind. Interessanterweise ist ihr Japanisch nicht nur in der Aussprache, sondern bis hin zum Satzbau und zur Grammatik eindeutig originär japanisch. In ihren Artikeln kann man keinerlei Hinweise finden, dass sie in Deutschland zur Schule gegangen ist.
Warum lebt Sandra, mit einem derartigen sprachlichen Hintergrund, aktuell in Japan? Sie wollte in dem Land, in dem eine ihrer Muttersprache gesprochen wird, leben und das Land von innen her kennenlernen. 1998 siedelte sie nach Japan um und erkundete seine Gesellschaft: Sie arbeitete zunächst als Englischlehrerin an einer Sprachschule, dann war sie freiberuflich tätig. Schließlich war sie sieben Jahre lang in einem japanischen Unternehmen in der Abteilung Auslandsexpansion angestellt. Diese Berufserfahrung verleiht ihren Artikeln mehr Tiefe. Heute ist sie eine von vielen Medien gefragte Kolumnistin.
Auf meine Frage, was Sandra durch ihre zahlreichen Artikel und Interviews künftig als deutsch-japanische (oder japanisch-deutsche) Brücke leisten möchte, antwortet sie, dass sie weiterhin in japanischer Sprache ihre Botschaften zur Schaffung einer Diversität anerkennende Kultur verbreiten möchte. Vielfalt und Diversität sind Begriffe, die man heutzutage in Japan oft hört, aber die Realität ist weit davon entfernt. So beispielsweise bei der Frage der Nationalität von Syukuro MANABE, der 2021 den Nobelpreis für Physik erhielt (Anmerkung der Redaktion: Obwohl er ein japanstämmiger US-Amerikaner ist, wurde er in japanischen Medien oft als „Japaner“ bezeichnet.), bei den Problemen der Menschen mit japanischen UND ausländischen Wurzeln, bei der Aufnahme von Flüchtlingen oder bei der bereits erwähnten Frage der einzigartigen japanischen Schulordnung. Themen, die wir Japaner*innen als selbstverständlich ansehen, wenn wir nur in Japan leben. Zu Themen, die für uns in unbewusst vorauseilenden Gehorsam schwer oder nur unter äußerster Vorsicht kommunizierbar sind, vermittelt uns Sandra HÄFELIN mit ihrem bilingualen Weltbild neue Perspektiven.

Die Fotos wurden von Frau HÄFELIN zur Verfügung gestellt.
Übersetzung; Japanisch-Deutsches Zentrum Berlin

Yurika SAMMORI-MABUCHI

Yurika
SAMMORI-MABUCHI

About the author

Direktorin des Tsukuba Language Arts Institute
Ihr Großvater, der als Militärangehörige in Dresden studiert hatte, gab ihr den Namen Yurika, der auch in Deutschland verständlich ist. Ihr Vater studierte deutsche Literatur und wurde Journalist. Als Korrespondent der Zeitung Sankei Shimbun arbeitete er von 1971 bis 1975 in Bonn, wo SAMMORI-MABUCHI Yurika ein Gymnasium besuchte, das für die Aufnahme ausländischer Schüler*innen bestimmt war. Dort wurde sie in einem internationalen Umfeld in deutscher Sprache unterrichtet. Nach ihrem Abschluss an der Sophia-Universität Tōkyō arbeitete sie fünf Jahre lang in einem japanischen Handelsunternehmen, wo sie einem Projektteam zugeordnet war, das eine Teilefabrik für den Trabant in DDR aufbauen sollte.

Während ihrer Bonner Gymnasialzeit bemerkte sie, dass es für sie wie auch anderen asiatischen Schüler*innen schwierig ist, sich in das deutsche Bildungssystem einzufügen. Nach Ende ihrer Tätigkeit im Handelsunternehmen fing sie an, diesem Phänomen auf den Grund zu gehen, in dem sie den westlichen Muttersprachenunterricht, der sich vom japanischen Muttersprachenunterricht völlig unterscheidet, zu untersuchen. Sie besuchte neben deutschen Schulen auch Bildungseinrichtungen in den USA, Kanada, dem Vereinigten Königreich, der Schweiz, Spanien, Dänemark, Frankreich und weiteren Ländern und entwickelte nach westlichem Vorbild Lehrpläne, Lehrmaterialien und Lehrmethoden für „Japanisch als Muttersprache“. Sie hält Vorträge und veranstaltet Workshops für Lehrer*innen in Bildungseinrichtungen (vom Kindergarten bis zur Hochschule) und Ausbilder*innen in Sportverbände (japanisches Olympisches Komitee, Fußballverband Japans, u. a.) und Unternehmen (JR East, JR West, u. a.). Sie veröffentlicht Bücher und tritt in den Medien auf, um den Schulunterricht „Japanisch als Muttersprache“ zu reformieren, damit sich Japaner*innen auf der internationalen Bühne in einer „low-context cultures“ adäquat behaupten können.