MATSUDA Tomoo wurde 1911 in Incheon (heute: eine Hafen- und Industriestadt an der Nordwestküste von Südkorea) als drittältester Sohn von MATSUDA Yoshio und seiner Ehefrau Fumi geboren. Sein Vater arbeitete für die Chōsen Ginkō, die Zentralbank der koreanischen Halbinsel, die im Jahr zuvor von Japan annektiert worden war. Dass er die Kindheit in Korea verbracht hat, mag zu MATSUDAs späterem Interesse am internationalen Austausch geführt haben. Eingeschult wurde er in Tōkyō in die Seijō-Grundschule, eine Privatschule, deren Mittelstufe (Sekundarstufe I) und Oberschule (Sekundarstufe II) er ebenfalls besuchte. Zu seinen Mitschülern in der Grundschule zählten MAEDA Yōichi (1911 - 1987, später Professor an der Universität Tōkyō) und NOMURA Kazuhiko (1914 - 1934, ältester Sohn des Schriftstellers NOMURA Kodō, 1882 - 1963), mit denen er sein ganzes Leben lang befreundet blieb. Alle drei waren Mitglieder des Seijō-Orchesters, in dem MATSUDA Cello spielte. In späteren Jahren genoss er es, zu Hause zusammen mit Freunden Kammermusik zu spielen. Auch war er ein begeisterter Skiläufer. Seine erste Erfahrung mit dem Skilaufen machte er als Junge auf dem Gipfel des Bergs Rokkō in der Präfektur Kōbe. Nach eigenen Angaben erlernte er das Skilaufen im klassischen österreichischen Stil.
1931 trat er in die Kaiserlichen Universität Tōkyō (heute: Universität Tōkyō) ein, wo er an der Philosophischen Fakultät die Geschichte des Westens studierte. Zusammen mit seinem Freund MAEDA Yōichi trat er der Bibelgruppe der Universität bei. Hier wurde er von YANAIHARA Tadao (1893 - 1961, später Präsident der Universität Tōkyō) unterrichtet, einem Schüler von UCHIMURA Kanzō (1861 - 1930)1 , der an der Kaiserlichen Universität Tōkyō Nachfolger von NITOBE Inazō (1862 - 1933, Wissenschaftler) war. NITOBE wiederum war 1920 zum Vizegeneralsekretär des Völkerbundes ernannt worden. Die Begegnung mit YANAIHARA brachte MATSUDA dem christlichen Glauben nahe, der zu einem der Grundpfeiler seines gesamten Lebens wurde.
Über YANAIHARA lernte er zu dieser Zeit ŌTSUKA Hisao (1907 - 1996, später Professor an der Universität Tōkyō) kennen, der als wissenschaftlicher Assistent in der Wirtschaftsfakultät der Kaiserlichen Universität Tōkyō tätig war. Diese Begegnung gab MATSUDA den entscheidenden Impuls für seine wissenschaftliche Laufbahn: Er schloss 1934 sein Geschichtsstudium ab, und blieb an der Universität, um ein Untergraduiertenstudium (heute: Bachelor-Studium) an der Wirtschaftsfakultät anzuschließen. Nach dem Abschluss auch dieses Studiums 1937 begann er gemeinsam mit ŌTSUKA Hisao (1907 - 1996, später Professor an der Universität Tōkyō) und TAKAHASHI Kohachirō (1912 - 1982, später ebenfalls Professor an der Universität Tōkyō) in der Forschungsstelle für vergleichende Geschichte des Landbesitzes an der Universitätsbibliothek der Kaiserlichen Universität Tōkyō über die europäische Wirtschaftsgeschichte zu forschen, wobei er selbst für die moderne deutsche Wirtschaftsgeschichte zuständig war. Im selben Jahr heiratete er Keiko, die jüngere Schwester seines Schulfreundes NOMURA Kazuhiko und zweitälteste Tochter des Schriftstellers NOMURA Kodō.
1938 wurde die Stiftung Tōakenkyūjo (Institut für Ostasienforschung) gegründet, die mit Forschungs-arbeiten zur Formulierung der japanischen Chinapolitik beitragen sollte. MATSUDA fand dort eine Anstellung als Wissenschaftler. Im folgenden Jahr verbrachte er mehrere Monate in Hongkong, in deren Folge sein 1950 veröffentlichtes Werk „Igirisushihon to Tōyō“ (Das britische Kapital und der Orient) entstand. 1940 erkrankte seine Frau Keiko und verstarb.
1942 erhielt er eine Anstellung als Dozent an der Oberschule der Präfektur Tōkyō. Im gleichen Jahr heiratete er Toshiko, die jüngere Schwester seiner verstorbenen ersten Frau Keiko. An der Oberschule übernahm er auch die Leitung des Bergsteigerclubs und lief selbst während der Kriegsjahre weiterhin Ski. Auch sein Cellospiel gab er nicht auf. Während eines Fliegeralarms soll er an einer Aufführung von MOZARTs Requiem mit dem Nihon Kōkyō Gakudan (heute: NHK Sinfonieorchester) und anderen Orchestern teilgenommen haben.
Seine erste Professorenstelle für Wirtschaftswissenschaften erhielt er 1948 an der Rikkyō-Universität. Gleichzeitig leitete er die christlich-sozialwissenschaftliche Studiengruppe der Studierenden an der Universität Tōkyō. Im selben Jahr wurde sein „Kindai no Shitekikōzōron“ (Eine historisch-strukturelle Theorie der Neuzeit) veröffentlicht. Neben der Forschung zur sozioökonomischen Entwicklung des modernen Europa begann er 1949 zusammen mit anderen Wissenschaftlern eine Untersuchung über die Situation der Bewässerungsanlagen in den dörflichen Siedlungen im Landkreis Kitasaku in der Präfektur Nagano. Dabei ging es um einen Vergleich mit den selbständigen Landwirten in Europa. Im selben Jahr organisierte er zusammen mit dem aus dem Landkreis Kitasaku stammenden ICHIMURA Kesazō (1898 - 1950, Professor an der Nihon Joshi Daigaku/Japanische Frauenuniversität) und dem Nachbar seines Ferienhauses in der Gemeinde Karuizawa (Präfektur Nagano) RŌYAMA Masamichi (1895 - 1980, später Präsident der Ochanomizu-Universität) eine Sommeruniversität Karuizawa. Sein Leben lang war er mit Karuizawa eng verbunden. So übernahm er in späteren Jahren beispielsweise die Präsidentschaft des Kulturvereins Karuizawa.
Ab 1951 arbeitete MATSUDA als Dozent an der Wirtschaftsfakultät der Universität Tōkyō und wurde vier Jahre später dort auch Professor. In den folgenden drei Jahren eröffnete er an mehreren Orten in Shinshū2 Schulen des evangelischen Glaubens für die örtliche Bevölkerung. Dies war darauf zurückzuführen, dass MATSUDA die bedeutsame Rolle der selbständigen Landwirte für die wirtschaftliche Entwicklung des modernen Europas erkannt hatte und den Aufbau ländlicher Gemeinschaften auf der Basis einer geistigen Unabhängigkeit der Landwirte als wichtig erachtete. 1953 kam der Schweizer evangelische Theologe Emil BRUNNER (1889 - 1966) nach Japan, wo er zwei Jahre an der International Christian University, einer privaten Hochschule in Tōkyō, unterrichtete. MATSUDA pflegte einen engen Kontakt zu ihm und wurde von ihm nachhaltig beeinflusst. Obwohl MATSUDA zutiefst religiös war, war er nach den Worten von ŌBA Haruo (Professor an der Hochschule für Bibliotheks- und Informationswissenschaft), einem mit ihm eng befreundeten Protestanten, „ein Christ, der seinen Glauben in der Öffentlichkeit nicht zur Schau stellte.“
In Herbst 1960 ging MATSUDA für einen einjährigen Forschungsaufenthalt an die Universität Tübingen. Dort widmete er sich der Forschung, den Industrialisierungsprozess im ländlichen Raum empirisch nachzuvollziehen, wofür er die regionale Geschichte württembergischer Landkreise im 19. Jahrhundert untersuchte. Nach seiner Rückkehr nach Japan wurde seine Dissertation „Württemberg Ōkoku no Sangyō¬hatten“ (Industrielle Entwicklung im Königreich Württemberg) von seiner Alma Mater angenommen und ihm der akademische Grad eines Doktors verliehen. Der Aufenthalt in Deutschland gab ihm den Anstoß, 1962 den Doitsu Shihonshugi Kenkyūkai (wörtlich: Studienkreis Deutscher Kapitalismus3) zu gründen, der über persönliche Beziehungen und akademische Gruppen hinaus zwei Treffen pro Jahr abhielt. Erwähnung verdient auch, dass MATSUDA während seines Aufenthalts in Deutschland nicht nur zur Wirtschaftsgeschichte geforscht hat, sondern auch ein für eine allgemeine Leserschaft bestimmtes Buch über Martin LUTHERs Reformation veröffentlichte.
Der Aufenthalt in Deutschland brachte auch persönlich eine neue Erfahrung in MATSUDAs Leben, und zwar den Genuss des Weines. Bis dahin hatte er als Christ abstinent gelebt und auf Alkohol verzichtet. Doch als er sah, wie die Menschen in Deutschland, die seinen christlichen Glauben teilten, Wein tranken, genoss auch er gelegentlich ein Glas Wein, das ihn entspannte. Die Verbindung zu Tübingen war auch für seine musikalischen Aktivitäten bereichernd. 1965 wurde ihm die Leitung des Musikclubs der Universität Tōkyō übertragen. 1966 ging er mit dem Universitätsorchester auf eine zwanzigtägige Tournee durch Deutschland und Österreich, bei der es auch ein gemeinsames Konzert mit dem Kammer¬orchester der Studierenden der Universität Tübingen gab. Als sein Orchester während der Tournee mit dem Bus durch Österreich fuhr, stieg ein Student zu und fing zur Überraschung aller an, fließend Japanisch zu sprechen. Es war der junge Josef KREINER (GEB. 1940), der später Professor an der Universität Bonn wurde. Die freundschaftliche Beziehung zu KREINER hielt viele Jahre.
1972 emeritierte MATSUDA von der Universität Tōkyō und ging gemeinsam mit seiner Frau Toshiko nach Deutschland, wo er als Gesandter an der Botschaft von Japan in der Bundesrepublik Deutschland (damals noch in Bonn) und gleichzeitig als Direktor des Japanischen Kulturinstituts Köln tätig wurde. Das Ehepaar richtete sich in Junkersdorf, einem ruhigen Wohngebiet im linksrheinischen Westen von Köln, ein. Als zweiter Direktor des im Jahre 1969 eröffneten Japanischen Kulturinstituts Köln förderte er eine Vielzahl kultureller Aktivitäten, doch sein Hauptaugenmerk lag auf dem deutsch-japanischen Wissenschaftsaustausch. Er war maßgeblich an der Organisation des Nichidoku Keizaiseminā (wörtlich: Deutsch-Japanisches Wirtschaftsseminar) in Deutschland beteiligt, das seit 1966 alle zwei Jahre im Wechsel zwischen Deutschland und Japan stattfand. Desweiteren organisierte er ein Symposium über die japanischen Philosophen NISHIDA Kitarō (1870 - 1945) und TANABE Gen (1885 - 1962). Im kulturellen Bereich lud er den ersten japanischen DAAD-Stipendiaten, den Maler HIGASHIYAMA Kaii (1908 - 1999) nach Köln ein und organisierte dessen Einzelausstellung4. Er schloss Freundschaft mit dem Juristen und Hochschullehrer Professor Gottfried BAUMGÄRTEL (1920 - 1997) von der Juristischen Fakultät der Universität Köln. Professor BAUMGÄRTEL eröffnete an der Universität zu Köln eine Bibliothek zum japanischen Recht und trug zum Austausch zwischen deutschen und japanischen Juristen bei. Nach Aussage von ISHIKAWA Akira (1931 - 2016, Professor an der Keiō-Universität), der damals an der Universität Köln forschte, hatte MATSUDA bereits die Wiederbelebung des Gebäudes der ehemaligen japanischen Botschaft in Berlin und dessen Nutzung als Kulturzentrum im Sinn. Das Gebäude wurde später restauriert und sollte ab 1988 die Stiftung Japanisch-Deutsches Zentrum Berlin beherbergen, die bis heute von Deutschland und Japan gemeinsam getragen wird.
Nach seiner Rückkehr von Köln nach Japan 1976 wurde MATSUDA zum Präsidenten der Kurzzeithochschule5 für Bibliotheks- und Informationswissenschaft, drei Jahre später zum Präsidenten der Hochschule für Bibliotheks- und Informationswissenschaft ernannt. Während dieser Zeit verlieh ihm die Bundesrepublik Deutschland in Anerkennung seiner vielfältigen Leistungen das Große Verdienstkreuz mit Stern und Schulterband. 1980 gründete MATSUDA die Richard-Wagner-Gesellschaft Japan und wurde deren erster Präsident.
Nach seiner Pensionierung als Präsident der Hochschule für Bibliotheks- und Informations-wissenschaften 1983 setzte er seine Bemühungen um den internationalen Wissenschaftsaustausch fort, indem er als Präsident der Nitchū Jinbunkagaku Kōryūkyōkai (wörtlich: Japanisch-Chinesische Gesellschaft für den Austausch in den Geistes- und Sozialwissenschaften) und als japanischer Vertreter für das Nichidoku Keizaigaku Shakaikagaku Shinposium (wörtlich: Japanisch-Deutsches Symposium für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften), dem Nachfolgeformat des Deutsch-Japanischen Wirtschafts¬seminars, fungierte. Während seiner Deutschlandreisen besuchte er Freunde und Bekannte in Bonn, Köln und anderswo, um alte Kontakte zu erneuern.
Darüber hinaus widmete sich MATSUDA den Aktivitäten der Stiftung Nomura Gakugeizaidan (Nomura Foundation). Die Nomura Foundation war 1963 mit einer Schenkung von MATSUDAs Schwiegervater NOMURA Kodō als gemeinnützige Stiftung gegründet worden, um im Bildungsbereich unterstützend tätig zu werden. Die Stiftung vergibt beispielsweise Stipendien an jungen Menschen aus der Region Tōhōku6 darunter auch aus NOMURAs Heimatpräfektur Iwate. Ferner unterstützt sie deutsche Studierende, die nach Japan kommen möchten. Als Vorstandsmitglied der Stiftung kümmerten sich MATSUDA und seine Frau persönlich um die Stipendiaten und luden sie jedes Jahr zu sich nach Hause ein. In seinen späteren Jahren konzentrierte MATSUDA seine Bemühungen auf den Bau des NOMURA Kodō Araebisu Kinenkan (Kodō = Araebisu7 Nomura Museum) in der Stadt Shiwa, dem Geburtsort von NOMURA Kodō. Die Eröffnung des Museums fand im Juni 1995 statt, und MATSUDA nahm trotz Krankheit an der offiziellen Einweihungszeremonie teil, bei der er ein Grußwort hielt. Er verstarb am 9. November 1995 im Alter von 84 Jahren an einem Lungeninfarkt. Posthum ehrte ihn Japan mit dem Orden des Heiligen Schatzes, zweite Klasse, vierter Grad. MATSUDA widmete sein Leben einem breiten Spektrum an Aktivitäten, darunter der Deutschland und Japan verbindenden Forschung und Lehre, dem christlichen Glauben, der Musik sowie der Unterstützung von Landwirten in Shinshū und jungen Menschen in Tōhōku. Sein Leben war erfüllt von Liebe und Verehrung, die viele Menschen ihm entgegenbrachten.
Der Autor bedankt sich bei SUMIKAWA Midori, IWAKIRI Emi, SAKATA Akemi, SHIMIZU Yōichi und KOJIMA Motoi für ihre unschätzbaren Ratschläge und ihre Hilfe beim Verfassen dieses Artikels.
Anmerkungen der Redaktion:
1) UCHIMURA Kanzō war protestantischer Christ und Gründer der japanischen Richtung des Christentums, die die Kirche als Institution sowie Dogmen ablehnte (Mukyōkai-Bewegung).
2) Shinshū ist die alte Bezeichnung der Präfektur Nagano.
3) In japanischen Texten wird sie mit der Abkürzung „ADWG” bezeichnet.
4) An seine Zeit in Köln erinnerte sich MATSUDA später in einem Textbeitrag unter dem Titel „So schön war’s damals“ in der Festschrift „20 Jahre Japanisches Kulturinstitut“, Köln: Japanisches Kulturinstitut Köln, 1989, S. 32-35 (deutsch) und S. 136-137 (japanisch).
5) Kurzzeithochschule (Japanisch: Tanki Daigaku) ist eine japanische Hochschulform, die im Englischen als junior college oder community college übersetzt wird. Hauptziel der meist zweijährigen Ausbildung ist es, die Studierenden mit Wissen und Fähigkeiten auszustatten, die für den Beruf oder im Alltagsleben notwendig sind.
6) Tōhōku ist die Bezeichnung für Japans Nordosten, der 2011 von der Tsunami- und Erdbebenkatastrophe betroffen war.
7) „Araebisu“ war das Pseudonym von NOMURA Kodō als Schriftsteller und Musikkritiker. Es bedeutet wörtlich so viel wie „Hinterwäldler“ und war ursprünglich ein Schmähwort der Menschen aus der Kaiserstadt Kyōto für die als „unzivilisiert“ betrachteten Ostjapaner. Der „Ostjapaner“ NOMURA Kodō, hatte die Bezeichnung aufgegriffen und selbstironisch auf sich bezogen.
Fotos ohne weitere Copyright-Angaben wurden durch Vermittlung von Herrn SAKATO von Frau SUMIKAWA Midori (geb. MATSUDA) zur Verfügung gestellt.
Übersetzung: Japanisch-Deutsches Zentrum Berlin mit freundlicher Unterstützung von Herrn Heinz-Dieter REESE