Brückengängerin: TANAKA Michiko ― Erinnerungen an Tante Deko

Im ersten Beitrag der neuen Blog Rubrik „Brückengängerinnen und Brückengänger“ erinnert sich JDZB Mitarbeiterin und Rubrik Initiatorin SEKIKAWA Fujiko daran, wie sie das erste Mal ihre berühmte Tante Deko traf.

Heute starten wir auf Initiative von SEKIKAWA Fujiko (Leiterin Sprachendienst JDZB) die Rubrik „Brückengängerinnen und Brückengänger – Personen, die die deutsch-japanische Freundschaft mit Leben erfüllen (oder erfüllten)“. Wir stellen Menschen aus beiden Ländern vor, die die partnerschaftlichen Beziehungen zwischen Deutschland und Japan mit Leben erfüllt haben oder noch erfüllen.
In unserer Publikation „Brückenbauer – Pioniere des japanisch-deutschen Kulturaustausches“ (2005, IUDICIUM Verlag), die das JDZB und die Japanisch-Deutsche Gesellschaft in Tōkyō zusammengestellt haben, wurden Pioniere gewürdigt, welche die deutsch-japanischen Beziehungen mitbegründet haben. Hier knüpft die Rubrik an, denn die deutsch-japanischen Beziehungen entwickeln sich gerade durch die „Brückengängerinnen und Brückengänger“ fortwährend weiter. Neben berühmten Persönlichkeiten werden auch weniger bekannte Personen vorgestellt. Seien Sie gespannt!

Anfang der 1960er Jahre – als Berlin bereits in einen Westteil und Ostteil geteilt gewesen war – haben sich eine Gruppe Japanerinnen und Japaner in West-Berlin zu einer Bootsfahrt auf dem Wannsee verabredet, unter ihnen mein Vater, meine Mutter und ich. Bevor wir uns auf dem Weg machten ermahnte mich meine Mutter: „Heute kommt auch deko obasan. Also sei besonders artig.“

Japanisch deko ist die Abkürzung von odeko, was „Stirn“ bedeutet. Mädchen mit hervorstehender Stirn werden oft liebevoll deko genannt. oba bedeutet „Tante“ und san ist eine japanische Höflichkeitsendung, die für Frauen wie für Männer gilt. Deshalb dachte ich, dass da eine ältere Frau mit besonders hoher Stirn kommen wird; und wenn mich meine Mutter vorher zur Ruhe ermahnt, wird sie wohl eine sehr strenge Tante sein.

Auf dem Ausflugsschiff fragte ich meine Mutter, welche Tante denn die deko obasan sei. Meine Mutter zeigte auf eine Frau, die umringt von anderen Ausflugsgästen, wie eine Königin auf ihrem Sitz thronte. Allerdings hatte sie keine besonders ausgeprägte Stirn, so dass ich mich irgendwie von meiner Mutter veräppelt fühlte.

Später, als ich etwas älter war, habe ich erfahren, dass sie nicht deko obasan ist sondern „DE KOWA-san“ bzw. „Frau DE KOWA“, die Ehefrau des Schauspielers Viktor DE KOWA (1904 - 1973). Weil meine Mutter – wie viele Japanerinnen und Japaner – den stimmhaften labiodentalen Frikativ [⁠v⁠] nicht aussprechen konnte, und stattdessen daraus einen stimmhaften bilabialen Plosiv [⁠b⁠] machte – hieß Frau DE KOWA bei uns in der Familie immer DE-KŌBA-san, weswegen ich deko obasan, also Tante Deko verstand. Erst später, als sie sich näherkamen, sprachen meine Eltern sie mit ihren Rufnamen Michiko-san an.

Bei der besagten Bootsfahrt war sie Ü50. Aus der Art, wie die Menschen um sie herum ihr ehrfürchtig begegneten, hatte ich das Gefühl, dass sie eine sehr wichtige Persönlichkeit sei.

TANAKA Michiko wurde 1909 als Tochter des Malers TANAKA Raishō (1868 - 1940) geboren. 1927 begann sie mit einer Gesangsausbildung an der Tōkyō Ongaku Gakkō (heute: Tōkyō Geijutsu Daigaku bzw. Universität der Künste Tōkyō). Dort traf sie den Cellisten und Dirigenten SAITŌ Hideo (1902 - 1974) vom Shin Kōkyō Gakudan (dem Vorläufer des heutigen NHK-Sinfonieorchesters), der kurz zuvor von seinem Deutschlandstudium, zusammen mit seiner deutschen Ehefrau, zurückgekehrt war. Zwischen ihm und Michiko entwickelte sich eine Affäre. Später schrieb sie, dass er ihr erster Liebhaber gewesen sei. Einige sagen, dass Michikos Eltern sie zum Studium ins Ausland schickten, weil sie Angst vor einem Skandal hatten. Andere sagen wiederum, dass Michiko selbst die Entscheidung für ein Auslandsstudium traf, um den feindlichen und gesellschaftlichen Peinlichkeiten zu entkommen. Auf jeden Fall ging sie 1930 nach Europa. Als Studienort wurde Wien gewählt, weil ŌNO Morie (1879 - 1958), ein entfernter Verwandter, dort als außerordentlicher und bevollmächtigter Minister an der japanischen Gesandtschaft tätig war. Zunächst plante Michiko, Harfe zu studieren, doch nachdem sie Maria JERITZA als Salome gehört hatte, schrieb sie sich an der Staatsakademie für Musik für ein Gesangstudium ein. Eine andere Legende besagt, dass ŌNO ihr zugeredet haben soll: „Schau, die Sängerin steht auf der Bühne, die Harfenisten sind unten im Orchestergraben. Überlege genau, was besser ist.“

Durch ŌNO wurde Michiko in die Wiener Gesellschaft eingeführt, wo ihr ungehemmtes Verhalten das Missfallen der japanischen Gesandtschaft erregte. Ihrer Rückbeorderung nach Japan konnte sie 1931 durch eine Heirat mit dem 40 Jahre älteren Julius MEINL II. (1869 - 1944) verhindern. MEINL verhalf ihr zur österreichischen Staatsbürgerschaft, so dass sie für immer in Europa bleiben konnte. Allerdings hat er eine falsche Angabe in Bezug auf ihr Geburtsjahr gemacht, so dass Michiko seitdem als „geboren 1913“ geführt wurde.

Der „Kaffeekönig“ Julius MEINL war Inhaber und Geschäftsführer des österreichischen Lebens­mittelkonzerns Julius MEINL AG. Er war sehr wohlhabend und verhalf Michiko als Sängerin und Schauspielerin zum Durchbruch. Er beauftrage den Komponisten Paul ABRAHAM, eine auf sie zugeschnittene Operette „Dschainah, das Mädchen aus dem Tanzhaus“ zu schreiben, die 1935 im Theater an der Wien mit großem – allerdings lokalen – Erfolg aufgeführt wurde. Auch ihren ersten Film „Letzte Liebe“ hat MEINL finanziert.

Ihr zweiter Ehemann Viktor DE KOWA zählte in den 1930er bereits zu den bedeutendsten Persönlichkeiten der Filmkomödie; seit 1926 war er mit der Schauspielerin Ursula GRABLEY verheiratet. Als er 1938 für eine Filmarbeit in Wien weilte, sah er in einer Ausstellung ein Porträt von TANAKA Michiko und sagte zu seiner Begleitung: „Dieses Himmelsgeschöpf werde ich einmal heiraten!“ Aber damals kam es noch zu keiner persönlichen Begegnung zwischen den beiden.

Nach der Heirat mit Julius MEINL hatte Michiko mehrere Affären in Wien, unter ihnen viele bekannte Namen. 1937 reiste sie zu Filmdreharbeiten nach Paris, wo sie sich in ihren Schauspielerkollegen verliebte. Nachdem sie von ihm betrogen wurde, zog sie nach Berlin, um bei der Sopranistin Maria IVOGÜN Gesangsunterricht zu nehmen. Als DE KOWA erfuhr, dass Michiko sich in Berlin aufhielt, setzte er alle Hebel in Bewegung, um mit ihr bekannt zu werden. Als sie sich schließlich trafen, verliebten sie sich sofort ineinander. Nach ihrem jeweiligen Scheidungs­verfahren heirateten sie 1941 in Berlin.

Meine Mutter erzählte einmal: „Julius MEINL muss Michiko-san wirklich geliebt haben. Sie erzählte, dass er sich Sorgen machte, was nach seinem Ableben aus ihr werden wird, denn schließlich war er 40 Jahre älter sie. Er wollte sie immer in guten Händen wissen. Bei der Trauung mit Herrn DE KOWA war er Trauzeuge, und er hat sie sogar mit einer großzügigen Mitgift bedacht.“

Mit ihrer Mitgift kauften Michiko und DE KOWA in Berlin Ruhleben eine große Villa, in der sie während der Wirren des Zweiten Weltkriegs und der Nachkriegszeit viele Kulturschaffende beherbergten. Sie war auch dafür bekannt, dass sie sich während und nach dem Krieg um viele japanische Musikstudentinnen und -studenten kümmerte, darunter die Violinistin SUWA Nejiko (1920 - 2012), die Dirigenten OZAWA Seiji (*1935), WAKASUGI Hiroshi (1935 - 2009) und ŌMACHI Yōichirō (*1931). Der spätere SONY-Chef ŌGA Norio (1930 - 2011) besuchte sie 1954 in Ruhleben – seitdem verband sie eine langjährige Freundschaft, die bis zu ihrem Tod anhielt.

1964 wurde meine Schwester geboren. Zur Gratulation kam Tante Deko mit einem großen Strauß Lilien vorbei. Meine Mutter freute sich über die Blumen und sagte: „Wie schön sie sind! Ich werde mein Mädchen Yuriko (Lilienmädchen) nennen.“ Daraufhin sagte Tante Deko: „Dann nimm doch meinen Namen Michiko.“ So kam meine Schwester zu ihrem Namen.

Nach dem Tod ihres Ehemanns 1973 verkaufte Tante Deko ihre Villa in Ruhleben und zog in eine Wohnung in der Sophie-Charlotten-Straße. Doch 1979 zog sie weiter in ein luxuriöses Seniorenheim in München, denn „das Haus hier in Charlottenburg hat nur einen kleinen Aufzug. Wenn ich hier sterbe, wird mein Sarg senkrecht in den Aufzug gesteckt. Das möchte ich nicht.“ Damals war mein Vater Generalkonsul in München und er lud Tante Deko oft in die Residenz ein, um ihr mit köstlichem japanischen Essen Freude zu bereiten. Er hat ihr in der Residenz den Orden des Tennō (des „Kaiser“s von Japan) übergeben – leider weiß ich nicht mehr, welcher Orden es war, noch mit welcher Begründung. Wahrscheinlich für ihr Lebenswerk: Als Sängerin und Schauspielerin Japan den Europäerinnen und Europäern nähergebracht zu haben. Vielleicht ist dies auch der Grund, dass sie bereits 1952 als erste Japanerin mit einer Tafel am Mozartgedenkhaus geehrt wurde. Dann für ihr Engagement für das Deutsch-Japanische Kulturabkommen, für ihren Einsatz zur Wiederbelebung der Deutsch-Japanischen Gesellschaft nach dem Zweiten Weltkrieg, und schließlich dafür, dass sie vielen jungen Musikerinnen und Musikern immer wieder unter die Arme gegriffen hat. Wir – meine Familie und ich – haben uns gefreut, dass ihr der Orden „spät, aber nicht zu spät“ verliehen wurde, denn Viktor DE KOWA wurde der Orden des Heiligen Schatzes 3. Klasse erst fünf Tage vor seinem Tod verliehen.

Wann immer ich Tante Deko sah, war sie perfekt geschminkt. Selbst in ihrem hohen Alter soll sie viele Liebschaften gehabt haben. Eines Tages schenkte sie meiner Mutter ihre rote, lederne Reisetasche, wobei sie sagte: „Ich habe hierfür keine Verwendung mehr, denn ich habe mich von meinem Freund getrennt.“ Mehrere Jahre nach ihrem Tod kam die Meldung des Todes eines deutschen Politikers. Meine Mutter sagte leise: „Nun ist auch der Freund von Michiko-san gestorben.“ Es war, als ob eine Ära zu Ende gegangen ist.

TANAKA Michiko starb 1988, im Alter von 78 Jahren in einem Münchner Seniorenheim. Der Berliner Senat richtete auf dem Friedhof Heerstraße für Michiko DE KOWA-TANAKA und Viktor DE KOWA ein Ehrengrab ein.

Grab von Michiko TANAKA

Das Grab von TANAKA Michiko auf dem Friedhof Heerstraße in Berlin. Dort ruht sie friedlich zusammen mit ihrem Mann Viktor DE KOWA. © 2021 NAKAMURA Masato. All Rights Reserved

Der Musiker, Schauspieler („Der Japaner vom Dienst“) und Opernregisseur TANAKA Toyo Masanori (unterschiedliche Angaben über das Geburtsjahr: 1956, 1957, 1959; verstorben 2015), der das internationale Festival MúsicaMallorca gegründet hat und seit 2003 bis zu seinem Tod dessen künstlerischer Leiter war, ist ein Neffe von TANAKA Michiko.

 

Frau Sekikawa
© YOKOYAMA Ai

Über die Autorin: SEKIKAWA Fujiko – Brückengängerin
Geboren in Wien, aufgewachsen in West-Berlin, Hamburg, Ost-Berlin, München und dazwischen immer wieder in Japan, Magisterabschluss in deutscher Literatur an der Sophia-Universität, seit 1987 Leiterin Sprachen­dienst im Japanisch-Deutschen Zentrum Berlin. Sie ist außerdem als freiberufliche Konferenzdolmetscherin tätig, um die Grundlage für das japanisch-deutsche Verständnis sicherzustellen, beispielsweise beim G7/G8/G20-Gipfeltreffen oder bei live-simultan Dolmetscheinsätzen für das Fernsehen.

Quellen:
https://de.wikipedia.org/wiki/Michiko_de_Kowa-Tanaka
https://oag.jp/img/2019/12/Notizen1912_Feature_de-Kowa-Tanaka.pdf
https://www.mallorcazeitung.es/kultur/2015/08/23/tod-toyo-tanaka-japaner-dienst/38242.html

Coverfoto ist ein Szenenbild aus dem Film Letzte Liebe (Fritz Schulz, A 1935)