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Die Zeit, die zwischen dem Fotografen Jōji Hashiguchi, Berlin und mir verstrichen ist

Jōji Hashiguchi zählt zu den renommiertesten Fotografen Japans und ist für seine enge Beziehung zu Berlin bekannt. In den 1980er Jahren fotografierte er die Jugendlichen in West-Berlin, als die Mauer noch stand und eine einzigartige Atmosphäre in der Stadt herrschte. Nach dem Mauerfall widmete er sich der Dokumentation der Viertel in Ostberlin, insbesondere von Mitte und Prenzlauer Berg, die sich über die Jahre von 1990 bis 2010 erstreckte. Die Künstlerin Meiko Fujimoto schilderte den fotografischen Blick und die Werke dieses außergewöhnlichen Fotografen einfühlsam in ihrem Essay.

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HofHof – Erinnerungen an Berlin

„Erkennen Sie das Titelbild von Hof? Der große Baum in der Mitte ist eine Linde. Und neben der Linde …“

Am anderen Ende der Leitung hörte ich eine Stimme mit einem vertrauten Akzent. Als ich sagte: „Hallo, hier ist Fujimoto“, setzte Herr Hashiguchi ebenfalls zu einem „Hallo“ an, hielt kurz inne und sagte dann aber: „Dabei kennen wir uns so gut wie kaum, nicht wahr?“

Das stimmt. Vor fast 25 Jahren haben wir uns bei einer Tempelveranstaltung in Osaka für wenige Sekunden gegrüßt. Das war das einzige Mal, dass ich Herrn Hashiguchi getroffen habe. Da meine Erinnerungen verschwommen sind, kann ich nicht mit Sicherheit sagen, ob es tatsächlich so war. Doch ich glaube, es handelte sich um dieselbe Stimme, die ich damals zusammen mit den auf eine große weiße Leinwand projizierten Fotos von Menschen, die Herr Hashiguchi aufgenommen hatte, hörte – untermalt vom rhythmischen Surren des Projektors und dem leichten Flattern der Leinwand.

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„… Die Holzbank neben der Linde dürfte inzwischen nicht mehr da sein. Das Gebäude im Hintergrund war damals ein Mehrfamilienhaus. Heute befindet sich dort Berlins größte Galerie für zeitgenössische Kunst.“

Während ich das Cover des Bildbands Hof  betrachtete, den ich gerade in der Hand hielt, lauschte ich aufmerksam. In dem Gebäude, von dem ich dachte, es könnte bereits abgerissen worden sein, wird jetzt zeitgenössische Kunst ausgestellt.
Ich hatte das Gefühl, als ob die einfarbigen Fotografien plötzlich durch kräftige Farben zum Leben erweckt wurden. Und das nicht nur in meiner Vorstellung, sondern tatsächlich, in diesem Augenblick.

Dieses etwas wundersame Gefühl, das ich erlebte, halte ich für ein charakteristisches Merkmal von Herrn Hashiguchis Arbeiten. Es ist nicht „filmisch“ im herkömmlichen Sinne – eher so, als ob etwas sehr Kleines zittert. Das Wort „Hauch“ trifft es vielleicht besser.

Möglicherweise ist es das Zittern von Herrn Hashiguchis Herz, das sich darin widerspiegelt. Er fängt das ein, was das Objekt seiner Kamera ihm mitteilt, und überträgt diese Botschaft wiederum an denjenigen, der das Foto betrachtet. Auch wenn Zeit und Ort weit auseinanderliegen, entsteht das Gefühl, tatsächlich selbst dort gewesen zu sein.

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Die Fenster des alten Gebäudes blicken auf den Innenhof. Sie scheinen unaufhörlich die beständigen Blumen, das Sonnenlicht und die Schatten festzuhalten, wodurch ein friedlicher Eindruck entsteht. Ich stelle mir vor, dass die Fenster zur Straßenseite hin im Gegenzug dazu den Himmel eher gleichgültig widerspiegeln.

Haben die Menschen hier gelebt und sich dabei ihren Umständen gefügt, wie die Linde, die tief verwurzelt Wind und Wetter trotzt? Hätten die Bäume, die zu wunderschön geschnitzten und polierten Geländern verarbeitet wurden, ihr Schicksal als erfreulich empfunden?

Obwohl keine Menschen auftauchen, ist das Werk Hof – Erinnerungen an Berlin erfüllt von stillem Leben und vergänglicher Schönheit.

HofIst es nicht schön, hier zu sein?

Dieser Bildband mit dem Untertitel West-Berlin – Aus dem Inneren der Mauer war meine erste Begegnung mit Hashiguchis Werken. Auf dem Cover ist ein junger Mensch mit violettem Irokesenschnitt abgebildet. Weint er? Schreit er? Ich war überrascht, als ich sah, dass die Veröffentlichung bereits im Januar 1985 war und somit fast 40 Jahre zurückliegt.

Dieser Bildband, auf dessen erstem Foto Flammen in einer Sommernacht in Kreuzberg auflodern, zeigt hauptsächlich Menschen, die als Außenseiter und Anarchisten bezeichnet werden. Alkohol- und Drogenabhängige, Punks mit bunt gefärbten Haaren sowie illegale Hausbesetzer, deren Räume eher wie menschliche Höhlen als Wohnungen anmuten.

Ob es die richtige Wahl war, gerade diesen Bildband als „Werk von Herrn Hashiguchi als Brücke zwischen Deutschland und Japan“ vorzustellen, weiß ich nicht. Vielleicht empfinden viele die abgebildete Stadt und die Menschen als zu außergewöhnlich und fremd, sodass sie diese Welt als etwas wahrnehmen, das nichts mit ihrer eigenen Realität zu tun hat. Doch wie bei seinen anderen Werken denke ich, dass Herr Hashiguchi nicht einfach nur aus dem Bestreben heraus, den Zeitgeist zu dokumentieren, den Auslöser betätigt hat.

Die Aufzeichnungen jener Menschen, die in einer von einer Mauer umschlossenen Stadt lebten und täglich darum kämpften, Freiheit und einen Platz für sich zu finden, offenbaren meiner Meinung nach über Zeit und Ort hinweg die Einsamkeit und Unsicherheit, die in jedem von uns schlummern, sowie die Kraft und die kleinen Hoffnungen, die darin entdeckt werden können. Je exzentrischer ihr Lebensstil und ihr Erscheinungsbild anmuten, desto deutlicher sticht gerade das Gewöhnliche hervor.

Ein junger Mann hat Tattoos im ganzen Gesicht, die an Graffiti erinnern. „Ich bin gerade auf der Suche nach Arbeit“, sagt er. Ich weiß nicht, was ihn dazu bewegt hat, diesen ganz eigenen Weg zu gehen. Doch aus Langeweile allein verletzen Menschen sich nicht selbst. Ist das eine schwache Lebenseinstellung? Oder ist es eine Form von Stärke, sich nicht gegen die eigenen Schwächen zu wehren? Solche Gedanken kommen mir in den Sinn.

In einer Zeit, in der es das Internet noch nicht gab, war dieser Bildband eine Brücke zwischen Deutschland und mir. Ich betrachtete die Bilder wohl mit einem subjektiven und sentimentalen Blick aus einem fernen Land, aber ich wurde nie leid, mir diesen Band anzusehen. Ich dachte darüber nach, ob ein Lebensstil, bei dem man etwas im Außen sucht, aber immer wieder gegen eine Mauer stößt und dann nach innen fällt, auch hier erlaubt sein könnte. Obwohl zur Hälfte von meiner eigenen Fantasie ausgefüllt, war diese einst tatsächlich existierende, von einer Mauer umschlossene Stadt mein Ort der Zugehörigkeit, mein ‚Hof‘.

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"Ich musste etwas anfangen, dachte ich.
Und Berlin wäre der richtige Ort dafür."


Im Jahr 2001 verfasste ich eine Rezension über Herrn Hashiguchis Fotoausstellung in Kyoto mit dem Titel „Atem – Berlin, Kichijôji“. Damals schrieb ich über die Porträts von Jugendlichen aus den 80er Jahren in West-Berlin, die etwa im gleichen Alter wie ich waren: „Ich konnte ihre Frustration über die eigene Bedeutungslosigkeit sowie die Angst, etwas werden zu müssen, die hinter ihrem antisozialen Erscheinungsbild verborgen lagen, nachempfinden.“

Wenig später stieß ich in diesem Bildband auf das Foto von Marie-Luise am Potsdamer Platz. Ich spürte, dass sie die Kunst zu leben verstand und eine Art Freiheit erlangt hatte, und ich sehnte mich danach, auf ähnliche Weise leben zu können.

Obwohl sich die Zustände um mich herum und ich mich selbst im Laufe der Zeit veränderten, versuchte ich, die Bilder und Gedanken, die seit jeher in meinem Herzen waren, noch einmal bewusst hervorzuholen. Dabei war ich erstaunt, dass die Berührungspunkte zwischen mir und dem tatsächlichen Berlin zwar nur minimal waren, doch die tiefe Wirkung, die sie auf mich hatten, und die prägende Kraft, die sie auf mein weiteres Leben ausübten, waren enorm.

„Sie wollte vermutlich auch von hier verschwinden“, schloss Herr Hashiguchi.

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Als ich die Potsdamer Straße entlangging, sah ich eine junge Frau, die am Straßenrand einen Stuhl und einen Tisch aufgestellt hatte. Während sie in ein Buch vertieft war, knabberte sie Erdnüsse. Zu ihren Füßen lagen zahlreiche Erdnussschalen verstreut. Etwa zwei Stunden später kam ich erneut vorbei und beobachtete, wie sie gerade einer anderen jungen Frau die Haare schnitt. „Das ist meine Arbeit“, erklärte Marie-Luise, die eine bekannte Friseurin war.

Hof ③ Zoo

Das Buch Wir Kinder vom Bahnhof Zoo (im Japanischen als Christianes Kummer bekannt) ist ein weltweiter Bestseller, der zweifellos zahlreiche Menschen faszinierte und sie dazu veranlasste, nach West-Berlin zu reisen. Ich bin einer von ihnen.
Als ich schließlich im Nachwort von Herrn Hashiguchis Bildband denselben Grund las, war ich sehr erfreut. Zudem stand dort geschrieben, dass er „das Milieu sehen wollte, das sie gesehen hatten“, was meine Freude noch weiter steigerte.
Dies war das Gefühl, das ich selbst nicht gut auszudrücken vermochte. Es fühlte sich an, als hätte er diesen Ort nicht nur aus Neugierde, sondern aus echtem Mitgefühl entdeckt. Dies stimmte mit meinen eigenen Empfindungen überein.

Es mag weit hergeholt sein, aber vielleicht war der Bahnhof auch ein ‚Hof‘ (ein Ort der Zugehörigkeit), an dem Menschen, die hier angespült wurden, eine Zeit lang verweilten.

Der Hauptbahnhof der Stadt mit dem ‚Zoo‘. Der Anblick junger Menschen, die, bevor sie andere Möglichkeiten hatten, ihr Leben gegen einen Ort der Zugehörigkeit eintauschten, ließ mich mit einem Gefühl tiefer Hilflosigkeit zurück. Gleichzeitig bietet der Ort Tieren, deren Heimat ursprünglich ganz woanders war, ein neues Zuhause zum Leben. „Vielleicht wollte ich hierherkommen, um selbst zu erfahren, wie es ist, ‚an einem Ort zu stehen, der sowohl die Lebenden als auch die Sterbenden akzeptiert‘.“ So denke ich inzwischen auch.

Ganz gleich, ob Menschen, Tiere oder Gebäude die Objekte sind – Hashiguchis Werke zeigen das Leben, das hinter der äußeren Form liegt. Verschiedene Leben, die an dem ihnen gegebenen Ort nach einem eigenen Platz der Zugehörigkeit suchen.

Einst gab es eine Stadt, die von einer Mauer umschlossen war. Doch gerade innerhalb dieser Mauer lag die Freiheit. Die Aufzeichnungen dieser Stadt, die von solchen Widersprüchen geprägt sind, erscheinen mir jetzt als ein Schlüssel zu einem universellen Problem, das unabhängig von Zeit und Ort besteht.

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Das Licht, das auf das Motiv fällt, leuchtet schwach und vermittelt das Gefühl der Stimmung vor der Morgendämmerung.

Wenn man innerhalb einer unsichtbaren Mauer gefangen ist, wäre es eine große Erleichterung, könnte man erkennen, dass diese Mauer nicht ein Hindernis darstellt, sondern vielmehr einen ‚Hof‘ – einen Ort der Zugehörigkeit – erschafft.

Meiko Fujimoto

Übersetzung aus dem Japanischen: Madlen Beret

Foto 1,2,3: aus Hof – Erinnerungen an Berlin (2011)
Foto 4,5: aus Ist es nicht schön, hier zu sein? (1985)
Foto 6: aus Zoo (1989)

 

Maiko Fujimoto

Meiko
Fujimoto

Profil der Autorin/des Autors

Geboren 1963 in Sakai, Präfektur Osaka. Schon in ihrer Kindheit interessierte sie sich für Handarbeit und Design und brachte sich autodidaktisch das kreative Schaffen bei. Seit den späten 1980er Jahren arbeitete sie als Künstlerin und Grafikdesignerin und entwickelte dabei einen einzigartigen Stil in Gemälden, Collagen, Illustrationen und Kleinobjekten. Unter den Namen Fujimoto Maiko, Maiko Fujimoto und fujimoto myco veröffentlichte sie zahlreiche Werke in Ausstellungen und Publikationen wie Bilderbüchern, Postkarten und CD-Covern und schrieb zudem Gedichte und Essays. Sie verstarb im Februar 2024.