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Brückengänger: Johann SCHUBERT ― Erinnerung an einem liebenswerten Pater

UEDA Erina erinnert sich an den „neuen Rektor“ ihrer High School, dem sie 25 Jahre später als „liebenswerten und strengen Deutschlehrer“ wiederbegegnet.

Anlässlich des 160sten Jubiläums japanisch-deutscher diplomatischer Kontakte stellen wir – und auch unsere Freunde und Partner – in der Rubrik „Brückengängerinnen und Brückengänger“ Menschen aus beiden Ländern vor, die die partnerschaftlichen Beziehungen zwischen unseren beiden Ländern mit Leben erfüllt haben oder noch erfüllen. In einer gemeinschaftlichen Publikation der Japanisch-Deutschen Gesellschaft Tōkyō und des JDZB „Brückenbauer – Pioniere des japanisch-deutschen Kulturaustausches“ (2005, IUDICIUM Verlag) wurden bereits viele Menschen gewürdigt, welche die deutsch-japanischen Beziehungen aktiv gestaltet haben. Hier knüpft diese Rubrik an, die wir auf Initiative von SEKIKAWA Fujiko (Leiterin Sprachendienst JDZB) gestartet haben. Neben berühmten Persönlichkeiten werden auch weniger bekannte Personen vorgestellt. Seien Sie gespannt!

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1933 wurde der Mann in einem kleinen Dorf in Oberschlesien als das jüngste Kind von insgesamt neun Geschwistern geboren. Die Region gehört heute zu Polen. Seine älteren Brüder sind in den Krieg gezogen, und der Vater ist verstorben. Der kleine Junge hat diese harte Zeit gemeinsam mit seiner Mutter und den Schwestern überlebt. 1955 hat er sich für ein Leben als Diener Gottes entschlossen und ist 1965 nach Japan gekommen. In den darauffolgenden 55 Jahren hat er viele Menschen getroffen und sich mit ihnen befreundet, hat viele Aufgaben gemeistert, und 2020 ist er in Japan in den ewigen Schlaf gefallen – so, wie er es sich gewünscht hatte.

Ich möchte Ihnen gerne diesen Mann vorstellen, einen Menschen, der sich mit starkem Willen und großem Mut gegen Schwierigkeiten stellte; den ersten Deutschen, den ich kennengerlernt habe. Er hat mich mit Deutschland verbunden. Ich stelle Ihnen Pater Johannes August SCHUBERT vor.

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Johannes Schubert

 

Johannes SCHUBERT, der 48jährige neue Rektor mit den stechenden Augen, hat sein japanisches Kollegium zutiefst verwirrt, indem er vorschlug, dass Schülerinnen mit schlechten Noten sitzen bleiben sollten. An High Schools in Japan ist es undenkbar, dass eine Schülerin aufgrund schlechter Noten nicht versetzt wird und ein Schuljahr wiederholen muss. Auf einem Gymnasium in Deutschland ist Sitzenbleiben normal, und Herr SCHUBERT hat es als Schüler selbst erlebt, dass die Zahl seiner Mitschüler von Jahr zu Jahr weniger wurde.

 

Wir Schülerinnen, die ihn gernhatten, haben ihn „Schu-chan“ (chan ist ein Namenssuffix, das eine Vertrautheit ausdrückt) genannt – natürlich nur in seiner Abwesenheit. Wer von ihm gerügt wurde, benutzte den zweiten Spitzenamen „Kutsuhimo“ (Japanisch kutsu für Englisch shoes und Japanisch himo für Englisch belt). Da ich Redakteurin des Jahrbuchs für meine Abschlussklasse war, habe ich Herrn Schubert um seinen Handabdruck und eine kurze Botschaft statt eines langen Textes gebeten, weil er als Rektor sehr beschäftigt war. Zur vereinbarten Zeit habe ich mit einer Flasche Kalligraphie-Tusche, einem Handwascheimer und einigen weißen Handtüchern ausgestattet, mit einer Klassenkameradin den Rektor in seinem Büro aufgesucht. Fröhlich und neugierig hat er auf der rechten Handfläche reichlich schwarze Tusche aufgelegt und sie auf das Papier gedrückt. Dann hat er mir eine rätselhafte englische Botschaft, die er auf seiner Schreibmaschine geschrieben hatte, übergeben:

 

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Hand and Text

Damals konnte ich mir die Wirkung oder die Macht, die seiner Hand innewohnt, noch gar nicht vorstellen. Tatsächlich trafen wir uns nach 25 Jahren wieder, und ich begann als erwachsene Frau bei ihm Deutsch zu lernen.

 

Über die Aktivitäten von Herrn SCHUBERT in seinen 50er und 60er Jahren – also nach meinem Schulabgang und bis zu unserer Wiederbegegnung – habe ich von anderen erfahren. Er war Professor an der Universität und hat mehr als 100 Studienreisen geplant, mehr als 12.000 Studentinnen und Studenten hat er durch Europa und die USA geführt. Es war eine wertvolle Gelegenheit für junge Menschen eines kleinen Inselstaates, fremde Länder zu erleben. Eine günstige und sichere Studienreise unter der Leitung eines Professors war für die Eltern der Studierenden ebenfalls eine Freude. Dafür hat Herr SCHUBERT seine Weisheit und alle möglichen Beziehungen voll eingesetzt und  jede harte Verhandlung mit dem Reisebüro gewonnen. Ich vermute, dass die Nachricht vom Berliner Mauerfall die Studierenden, die unter seiner Leitung auch den Checkpoint Charlie besucht hatten, tief berührt hat.

 

Um seine Gesundheit zu erhalten, hat Herr SCHUBERT Tennis gespielt, ist geschwommen, und liebte Japans moderne öffentliche Badehäuser und Wein. Durch diese Hobbys hat er viele Menschen kennengelernt und wurde von ihnen geliebt. Als Priester war er immer von vielen Gläubigen umgegeben, insbesondere von Frauen.

 

Auch nach dem Schulabgang habe ich mein Interesse für Deutschland nicht verloren. Eines Tages wurde ich von einer Freundin bei der Japanisch-Deutschen Gesellschaft Nagoya zu einem kleinen Deutschkreis eingeladen. Die Freundin, die dort Deutsch lernte, sagte: „Unser Lehrer ist Pater SCHUBERT.“ Das war eine große Überraschung: „Echt? Ich kenne ihn!“

 

Mein ehemaliger Rektor, den ich nach 25 Jahren wiedertraf, war ein humorvoller und gemütlicher alter Mann. Seine strenge Haltung gegenüber den Lernenden war jedoch gleich geblieben. Nachdem wir die Bibel in deutscher Sprache und den SPIEGEL gelesen hatten, mussten wir zehn Fragen beantworten, die er vorbereitet hatte. Wenn mir ein Wort fremd war und ich schwieg , hat er auf mein elektronisches Wörterbuch gezeigt und gefragt: „Was sagt Ihr Gehirn dazu?“ Herr SCHUBERT war jeden Tag auf Tagesschau.de oder zdf.de  und hat uns dann gefragt: „Wissen Sie, was heute die Top-Nachrichten in Deutschland sind?“ Deshalb mussten wir vor jedem Unterricht das Internet checken.

 

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Johann Schubert

Manchmal hatten wir auch Musikunterricht. Herr SCHUBERT hat Noten von Volksliedern vorbereitet, und wir haben zusammen nach den Noten gesungen. Sein Lieblingslied war „O du lieber Augustin“: Sein Vater wollte den jüngsten Sohn „August“ nennen, aber seine Mutter war dagegen. Sie hat sich gesorgt, dass ihr Sohn in der Schule mit diesem Lied gehänselt werden könnte. Zu guter Letzt ist des Vaters Wunschname zum zweiten  Rufnamen geworden. Das Ende Juni geborene Baby hat von Johannes dem Täufer seinen ersten Rufnamen erhalten. Ich hatte den Eindruck, dass sich Herr SCHUBERT sehr gefreut hat, wenn er mit „August-san“ (san ist ein Namenssuffix, das Höflichkeit ausdrückt) angesprochen wurde.

 

Ich habe zum Unterricht immer deutschen Kräutertee mitgebracht und serviert. Es hat Spaß gemacht, teetrinkend Herrn SCHUBERTs Erinnerungen von Deutschland zuzuhören. Er hat mir ein Buch von der Heiligen Hildegard von Bingen geschenkt, damit ich mehr über Kräuter oder Naturheilkunde lernen könnte, wenn ich daran interessiert sei. Das Buch ist mein Schatz. Ich denke, dass es seine Hoffnung war, uns durch seinen Unterricht nicht nur die deutsche Sprache, sondern auch Kultur, Geschichte, Gesellschaft, Denkart usw. zu vermitteln, so wie er es selbst in Japan erlebt hatte.

 

Den Sommer 2018 hat Herr SCHUBERT in einem Missionshaus in Deutschland verbracht. Später habe ich erfahren, dass das seine innere Vorbereitung auf den Abschied von dieser Erde war. Er hat alte Freunde besucht und die schöne Landschaft seines Geburtslandes in das schwächer werdende Augenlicht eingebrannt. Früher, als er von einer Deutschlandreise zurückgekehrt war, hat er zehn Jahre jünger ausgesehen, aber nach  seiner letzten Reise erschien er sehr müde.

 

Frau Reiko TIDTEN, die mich zu diesem Beitrag ermutigt hat, leistet als Dolmetscherin und Übersetzerin immer hervorragende Arbeit beim regelmäßigen Austausch zwischen der Steuerberaterkammer München und der Steuerberaterkammer Nagoya, der ich angehöre. Wir sind uns begegnet, ohne zu wissen, dass wir beide eine persönliche Verbindung zu Herrn Schubert haben.

 

Ein Japaner, den ich bei einer privaten Reise nach Deutschland kennengelernt habe, hat erzählt, dass ein Priester namens SCHUBERT in einer Kirche in Tōkyō  tätig war, die er als Kind regelmäßig besucht hatte: „Vielleicht ist Ihr Lehrer und mein Priester ein und dieselbe Person?“ Ja, tatsächlich war das der Fall. Als ich es Herrn SCHUBERT erzählte, war auch er über diesen Zufall sehr erstaunt.

 

Über 55 Jahre lang hat Herr SCHUBERT viele Samen in Japan gesät. Die Blumen der Freundschaft zwischen Deutschland und Japan werden weiter und weiter blühen, durch die mannigfaltigen Begegnungen derjenigen Menschen, die mit ihm verbunden sind.

 

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UEDA Erina

Über die Autorin: UEDA Erina – Brückengängerin

Steuerberaterin, Vorstandmitglied der Japanisch-Deutschen Gesellschaft Nagoya.

Da das japanische Einkommensteuergesetz (EStG) auf dem preußischen Steuersystem basiert, wurde ihre Wissbegier auf das deutsche EStG geweckt, weswegen sie sich emporgerafft hatte, im Selbststudium (mit NHK Radio) Deutsch zu lernen. Da ein Drittel aller Steuerbücher weltweit auf Deutsch geschrieben ist, geht sie davon aus, dass ihre Studienmaterialien niemals erschöpft sein werden. Als Hobby hat sie mit dem Reiten angefangen, dem man auch in Deutschland nachgehen kann. Sie freut sich auf die nächste Deutschlandreise, sobald die COVID-19-Pandemie vorbei ist.

 

Der deutschsprachige Text wurde von der Autorin selbst – in Gedenken an Pater SCHUBERT – verfasst.

 

Das JDZB dankt der Autorin für diesen sehr persönlichen Beitrag, den es durch die freundliche Vermittlung von Frau Reiko TIDTEN – einer langjährigen Kooperationspartnerin des JDZB – erhalten hat.

 

Alle hier gezeigten Fotos wurden von der Autorin zur Verfügung gestellt.