Wir, die sieben deutschen Teilnehmer*innen, möchten uns gern bei all denen bedanken, die uns diese wundervolle und erkenntnisreiche virtuelle Reise ermöglicht haben.
Wir erinnern uns noch lebhaft an unser Vorbereitungsseminar für diesen Fachaustausch. Da ging es zunächst um das Lernen. Wie lernen wir? Eine Aussage war: durch Verwirrung und sich auf diese Verwirrung einzulassen und die eigene Arbeit zu hinterfragen. Und glauben Sie uns, wir waren in diesem Seminar durchaus oft verwirrt ob der Unterschiede oder der Gemeinsamkeiten mit unseren zwölf japanischen Kolleg*innen – also müssen wir sehr viel gelernt haben.
Wir haben uns auf dieses interkulturelle Abenteuer eingelassen, was damit begann, eine wichtige Wissensgrundlage zu bilden. Wir lernten auf dem Online-Vorbereitungsseminar durch den Japanologen Herrn Andreas EDER-RAMSAUER von der Freien Universität Berlin japanische Landeskunde und Nachkriegsgeschichte kennen. Wir erhielten Einblicke in die Problemfelder der japanischen Wirtschaft und die Folgen der Post-Bubble-Economy.
Das japanische Bildungssystem und die sozio-politischen Rahmenbedingungen wurden sehr aufschlussreich vermittelt und unsere Fragen dazu adäquat beantwortet. Das half uns, die gesellschaftlichen Strukturen in Japan besser zu verstehen. Mit Spannung wurde der Punkt erwartet, in dem die Situation der Jugend in Japan zum Tragen kam. Hier wurde uns unter anderem der Begriff der Hikikomori („Einnister“, Menschen, die sich sozial zurückziehen) ausführlich erklärt, da wir in Deutschland viel zu wenig über dieses Phänomen wissen.
Zu guter Letzt wurden die Topics von 2021 angesprochen, vor allem die Auswirkungen der COVID-19-Pandemie, die Olympischen Spiele und die aktuelle politische Lage in Japan.
Um die Strukturen der Kinder- und Jugendhilfe in Japan besser zu verstehen, half uns der ausführliche Vortrag von Frau MIURA Nauka (Japanisch-Deutsches Zentrum Berlin, JDZB) und Frau Claudia MIERZOWSKI (Fachstelle für Internationale Jugendarbeit der Bundesrepublik Deutschland e. V.), auch auf dem Vorbereitungsseminar. So steht die Kinder- und Jugendhilfe dort vor der Herausforderung der Finanzierung, da es in der Gesetzgebung oft nur eine Bemühungspflicht nach Ermessen gibt und nur in wenigen Bereichen echte Pflichtleistungen. Eine weitere Herausforderung bildet das ehrenamtliche Engagement, das auch gesetzlich verankerte Aufgaben übernimmt und somit fehlende Fachkräfte ersetzt.
Das erste Treffen mit den japanischen Kolleg*innen wurde mit einer Videobotschaft von Herrn Stefan ZIERKE, Schirmherr des Deutsch-Japanischen Jugend- und Fachkräfteaustauschs und Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) eingeleitet sowie mit Grußworten von Herrn ŌUCHI Katsunori, Abteilungsleiter, Abteilung Children's Dream Fund vom National Institution for Youth Education (NIYE) und Frau Dr. Julia MÜNCH, Generalsekretärin des JDZB.
Die guten Beziehungen zum jeweiligen Land sowie das fünfzigjährige Bestehen des deutsch-japanischen Fachkräfteaustauschs wurden gelobt und deren Wichtigkeit für Kinder und Jugendliche betont. Kinder- und Jugendarmut sei ein Thema, was keinen Aufschub dulde.
Frau Prof. Dr. YAMANO Noriko (Präfekturale Universität Ōsaka) referierte dann über Armut in Kind-heit und Jugend in Japan, und was aus ihrer Sicht getan werden müsse. Sie zeigte die drei Säu-len der Armut auf. Diese bestehen aus Mangel an
1. materiellen Ressourcen
2. Sozialkapital (zwischenmenschliche Kontakte) und
3. Humankapital (Gesundheit und Bildung).
An diesen drei Säulen müsse angesetzt werden, um Armut wirkungsvoll zu bekämpfen. Dabei gelte es, Grundlegendes zu sehen und die Scham der Betroffenen zu senken. Die unsichtbaren Folgen der Armut in Kindheit und Jugend sind Vereinsamung, Kindeswohlgefährdung, Verhaltensauffälligkeiten und Verschlechterung der Schulleistung. 30 % der gefährdeten Klientel erhalten keine Hilfen. Verbesserungsbedarf sieht Prof. YAMANO in den Schulen. Die Befugnisse der Lehrer*innen, Informationen über ein potenziell gefährdetes Kind an geeignete Stellen weiterzuleiten, müssen erweitert werden. Außerdem fordert sie ein sogenanntes „Schulscreening“, das kein Kind übersieht.
Zum Thema „Armut in Kindheit und Jugend in Deutschland“ gab Herr Alexander NÖHRING vom „Zukunftsforum Familie e. V.“ einen Input. Er begann seinen Vortrag mit dem Leitsatz „Familie ist überall dort, wo Menschen dauerhaft füreinander Verantwortung übernehmen, Sorge tragen und Zuwendung schenken.” Ähnlich wie bereits durch Prof. YAMANO vorgetragen, betonte auch er, dass Kinder und Jugendliche in Armut Einschränkungen bei materieller Grundversorgung, sozialer Teilhabe, kulturellen Ressourcen und ihrer gesundheitlichen Lage erleben. Diesen Einschränkungen stellte er die Entwicklungsaufgaben von Kindern und Jugendlichen gegenüber und zeigte auf, dass viele Entwicklungsaufgaben durch Armut erschwert werden. Er präsentierte verschiedene Strategien von Bund, Ländern und Kommunen, Armut präventiv vor Ort entgegenzuwirken. Als Vorschlag zu einer besseren Strategie der Unterstützung von Kindern und Jugendlichen in Armut stellte er das Konzept „Kindergrundsicherung“ vor. Mit dieser Kindergrundsicherung sollen Kinder monetär gleich gefördert werden und die aktuell ungleich geförderte Bildung und Teilhabe (Steuerrecht vs. Sozialrecht) überwunden werden. Anhand der Unterstützung, die es derzeit in Deutschland gibt, sei es möglich, zu dem Schluss zu kommen, dass „dem Staat nicht jedes Kind gleich viel wert“ sei. Wir sind nunmehr gespannt, wie die neue Bundesregierung die im Koalitionsvertrag festgehaltene Kindergrundsicherung umsetzen wird.
Als Beispiel für eine japanische Einrichtung referierte bei unserem zweiten Treffen Frau SUZUKI Akiko über ihren Verein „Free Space Tamariba“, welcher ein anerkannter gemeinnütziger Verein ist. Dieser Verein hat verschiedene Projekte, welche die Arbeit eines „Ibasho“ („Ort des Seins und Wohlbefindens“) beispielhaft zeigten. Kinder und Jugendliche können die verschiedenen Einrichtungen aufsuchen, unabhängig davon, ob sie dies nach der Schule tun oder Schulabsente sind. Ebenfalls sind die Einrichtungen für Menschen ohne und mit Behinderung geöffnet, sowie auch für Eltern und Studierende. Besonders im Kopf blieben uns der „Kindertraumpark Kawasaki“ (Kawasaki City Kodomo Yume Park), wo Kinder z. B. im Matsch spielen können, eine Erfahrung, die sie sonst oftmals nicht sammeln könnten. Ebenfalls wurde der „Community Space Enkuru“ gezeigt, welcher die Angebote Kantine, Tafel und Kindercafé in sich vereint.
Bei unserem dritten Treffen berichtete Frau Carolin GENZ vom Verein „Kinderstärken e. V.“ als ein Beispiel aus Deutschland über das Stadtteilmanagement in Stendal-Stadtsee. In diesem Stadtteil gab es in den letzten zehn Jahren immense Transformationsprozesse, in denen sich die Bevölkerung von circa 20.000 auf circa 11.000 halbierte. Ebenfalls wurden alte Plattenbauten massiv zurückgebaut. Das Stadtteilmanagementbüro stellt hierbei eine Beratungsstelle im Brennpunktbezirk dar und bietet auch Raum für die Anwohner*innen, am Transformationsprozess zu partizipieren.
Bei dem vierten Treffen stellten eine deutsche und eine japanische Teilnehmerin ihre Einrichtung als Ergänzung zu den virtuellen Einrichtungsbesuchen vor. Frau Sybille SURYANA vom Kinderschutzbund Würzburg berichtete über ihre Arbeit mit Ehrenamtlichen in der Familienhilfe. Auf der japanischen Seite stellte Frau SHIBUYA Ayaka ihre Arbeit am Gesundheitsamt in der Stadt Kawaguchi im Bereich psychischer Gesundheit dar. Die Inputs waren ein guter Einstieg für einen vertiefenden Austausch.
Danach ging es an den letzten beiden Tagen der Veranstaltungsreihe in die Gruppendiskussion in zwei Gruppen. Die Themen in der ersten Gruppe, moderiert von Frau MIURA, waren:
1. Einen gesamtgesellschaftlichen Lösungsansatz zu finden, der den Blick auf das Ziel des Kindes gerichtet hält. Dies bedeutet eine gute Vernetzung des gesamten Helfersystems, das einheitlich koordiniert sein sollte, und ein eigenes Ministerium für die Lebenswelt der Kinder in beiden Ländern. Auf japanischer Seite sollten zudem die Kompetenzen der freien und privaten Träger gestärkt werden, um mehr gesellschaftliche Anerkennung zu bekommen und um das Wohl der Kinder zu stärken.
2. Für das zweite Thema nahmen wir einen Perspektivwechsel vor und sprachen über die Bedingungen und die Probleme der Beschäftigten im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe und was für ihre psychische Gesundheit getan werden muss, damit sie sich weiter gestärkt und motiviert engagieren können. Wir sind letztendlich zu dem Schluss gekommen, dass dies durch wertschätzende und transparente Kommunikation im Team und durch externe Supervision erreicht werden kann. Freundschaftliche und wertschätzende Kommunikation mit den Kindern und den Familien trägt zu Freude und Spaß an der Arbeit bei, von der auch die Familien profitieren können. Die Bedeutung all dessen muss gesamtgesellschaftlich anerkannt sein, um psychisch gesunde und motivierte Helfende in der Kinder- und Jugendhilfe zu haben.
In der zweiten Diskussionsgruppe, moderiert von Herrn AOKI Kōtarō (Universität Kokugakuin und Forschungsbeauftragter National Institution for Youth Education) tauschten wir uns mit unseren japanischen Kolleg*innen nach einer offenen Themensammlung zu drei Themenbereichen aus:
1. Corona-Unterstützungen in Deutschland und Japan: Hierbei stellten wir fest, dass diese sehr unterschiedlich gehandhabt wurden. In den japanischen Medien sei Deutschland oftmals als „Paradebeispiel“ bei den Corona-Maßnahmen dargestellt worden. Für beide Länder wurde festgestellt, dass insbesondere bei Menschen, die vorher bereits in schwierigen Lebenslagen waren, die Pandemie die Lebenssituation deutlich verschlechtert hat.
2. Wir stellten uns die Frage, wie Kinder in Armut gut unterstützt werden können und tauschten uns insbesondere hinsichtlich Erlebnispädagogik und Resilienzbildung aus. Wir vertieften die Ideen, Kindern und Jugendlichen neue Erfahrungen zu bieten, ein Vorbild zu sein, Kinder und Jugendliche ihre Grenzen austesten zu lassen und dies in einem Rahmen, in dem demokratische Gemeinschaft erlebt werden kann. All dies schien uns förderlich, um Kinder und Jugendliche in Armutslagen in ihrem Selbstwertgefühl zu stärken und möglicherweise zum sozialen Aufstieg zu führen. Auch müssen immer die Eltern mitbedacht und eingebunden werden.
3. Schließlich beschäftigten wir uns noch damit, wie Unterstützungsangebote und Schulen besser koordiniert werden und zusammenarbeiten können. Eine Herausforderung, die uns deutlich wurde, war, dass Kinder und Jugendliche insbesondere bei umfassenden Ganztagsschulangeboten für Familie und Freizeit oft zu wenig Zeit finden. Wir tauschten uns über die Wichtigkeit und die Möglichkeiten von Schulsozialarbeit aus. Um externe Angebote für Kinder und Jugendliche in der Schule zu verankern, ist die Vernetzung mit den Lehrer*innen oder möglichst der Schulleitung wichtig. Regionale Arbeitsgruppen können hierfür ein Schnittpunkt sein.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Situation von Kindern und Jugendlichen in Armut sowohl in Japan als auch in Deutschland komplex ist. Es gibt viele verschiedene Lösungsansätze und, auch bei teils ähnlichen Problemen, unterschiedliche Umsetzungen von Hilfen.
Für mich (Benjamin SULT) persönlich waren insbesondere die Transformationsprozesse in Japan und in Deutschland spannend. Diese sind meines Erachtens eine äußerst große Herausforderung in den Ballungszentren. Ebenfalls finde ich es faszinierend, wie japanische Jugendhilfeeinrichtungen angenommen werden und insbesondere auch „Hikikomori“ erreichen. Dies empfinde ich als unglaublich beeindruckend.
Von japanischer Seite gab es in informellen Austauschrunden immer wieder Fragen zu Migration und Flüchtlingspolitik. Aufgrund verschiedener Expertisen in diesem Bereich konnten wir uns gut mit eigenen Erfahrungsberichten einbringen.
Als Ergebnis aus dem Austausch nehmen wir viel Inspiration durch den Blick über den Tellerrand hinaus mit. Die Institution des „Ibasho“ sowie einen Schwerpunkt darauf zu setzen, Kinder und Jugendliche in einem offenen pädagogischen Rahmen (alltägliche) Erfahrungen machen zu lassen, hat uns alle sehr bewegt. Ebenfalls wurde uns die Wichtigkeit von Vernetzung in der Jugendhilfe bis hin zur Gemeinwesenarbeit deutlich.
Frei nach Herrn NÖHRING geht es darum, Verantwortung zu übernehmen, Sorge zu tragen und Zuwendung zu schenken, wodurch Kinder und Jugendliche (in Armut) eine Art Familie im Rahmen der Jugendhilfe bekommen können, wenn es an dieser im eigenen Zuhause mangelt.
Um den fruchtbaren deutsch-japanischen Austausch weiter fortzusetzen, sind gemeinsame Nachtreffen mit den japanischen Kolleg*innen geplant, welches Mitte Februar als Versuch gestartet ist. Wir sind sehr gespannt auf unseren zukünftigen Dialog.
* Die Autor*innen sind Teilnehmer*innen des Deutsch-Japanischen Studienprogramms für Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe, welches aus Mitteln des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend und des japanischen Ministeriums für Bildung, Kultur, Sport, Wissenschaft und Technologie gefördert wird. Das Jahresthema wechselt alle drei Jahre, seit 2019 lautet es „Armut in Kindheit und Jugend: Herausforderungen und Lösungsansätze“. Auf deutscher Seite ist das Japanisch-Deutsche Zentrum Berlin für die Programmdurchführung verantwortlich; auf japanischer Seite für 2021 das National Institution for Youth Education. Aufgrund der COVID-19-Pandemie wurde 2021 das o. g. Studienprogramm in Online-Format durchgeführt.